"Ich liebe dich – und du nervst mich": Wenn Familienkonstellationen herausfordernd sind
- Lene Tabatabaei
- 10. Jan.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Apr.
Im Familienalltag stoßen wir oft auf ein paradoxes Gefühl: tiefe Liebe zu unseren Familienmitgliedern und gleichzeitig das Bedürfnis, sie auf den Mond zu schießen, weil sie uns unglaublich auf die Nerven gehen. Besonders in Beziehungen zwischen Eltern und Kindern kann dieses Spannungsfeld stark spürbar werden. Kinder können fordernd, anstrengend und emotional herausfordernd sein. Doch wie lässt sich dieses Nebeneinander von Liebe und Genervtheit verstehen und vor allem kommunizieren?
Genervtheit ist normal – und auch wichtig
In Familien, in denen Menschen so eng zusammenleben und viele verschiedene Bedürfnisse aufeinandertreffen, sind Konflikte unvermeidlich. Jeder Mensch ist ein Individuum, und je enger die Beziehung, desto mehr prallen Unterschiede in Erwartungen, Stimmungen und Bedürfnissen aufeinander. Dass man sich dabei auch mal auf die Nerven geht, ist nicht nur normal, sondern sogar unvermeidlich und völlig in Ordnung. Dies bedeutet nicht, dass die Liebe in Frage steht.
Gerade Kinder sind oft intensive emotionale Wesen, die sehr stark nach Aufmerksamkeit und Bestätigung streben. Sie fordern, hinterfragen und testen Grenzen aus. Dabei können sie Eltern an die Grenzen ihrer Geduld bringen. Hier ist es wichtig, zu verstehen, dass Genervtheit als Elternteil eine natürliche Reaktion auf Überlastung und Reizüberflutung ist. Unsere emotionale Reaktion darauf zeigt uns, wo unsere Grenzen liegen, und hilft uns, diese auch zu setzen.
ACT: Die Gleichzeitigkeit von Gefühlen akzeptieren
In der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) geht es darum, alle Gefühle – sowohl angenehme als auch unangenehme – anzunehmen, anstatt sie zu verdrängen oder als "falsch" zu bewerten. Dies gilt auch für die unangenehmen Emotionen, die in familiären Beziehungen auftreten, wie Wut, Genervtheit oder Erschöpfung.
Ein zentrales Prinzip der ACT lautet: "Gefühle gehören zum Leben dazu." Wir erleben nicht nur eine einzige Emotion, sondern oft ein ganzes Spektrum an Gefühlen gleichzeitig. So kann man ein Kind lieben und dennoch genervt oder wütend auf es sein. Beide Gefühle existieren nebeneinander, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Der Schlüssel ist, diese Gleichzeitigkeit anzuerkennen, anstatt sich von einem Gefühl übermannen zu lassen und das andere auszublenden.
Beispielsweise könnte eine Mutter sagen: „Du hast mich heute wirklich wütend gemacht, als du mein Nein ignoriert hast. Aber ich liebe dich trotzdem – das hat nichts damit zu tun.“ Durch solche Aussagen wird die Gleichzeitigkeit der Gefühle verdeutlicht und dem Kind signalisiert: "Auch wenn ich dich in diesem Moment nicht mag, liebe ich dich bedingungslos."
Für Kinder wichtig: Bedingungslose Liebe und klare Kommunikation
Für Kinder ist es essentiell, zu wissen, dass die Liebe ihrer Eltern unverrückbar und unabhängig von ihrem Verhalten ist. Sie müssen spüren, dass sie nicht perfekt sein müssen, um geliebt zu werden. Denn nur so können sie sich sicher fühlen und mit den unvermeidlichen Konflikten des Lebens souverän umgehen.
Das bedeutet aber nicht, dass man seine Genervtheit oder Wut unterdrücken sollte. Im Gegenteil: Es ist wichtig, dem Kind klar und ehrlich zu kommunizieren, wie man sich fühlt, ohne dabei die Liebe in Frage zu stellen. Hier kann die ACT wieder hilfreich sein: Akzeptiere die unangenehmen Gefühle, setze klare Grenzen und mache gleichzeitig deutlich, dass die Liebe zum Kind davon unberührt bleibt.
Ein Beispiel aus dem Alltag könnte so aussehen: Wenn das Kind zum wiederholten Mal die Bitte der Eltern ignoriert, kann dies den Geduldsfaden reißen lassen. In einem solchen Moment ist es hilfreich, dem Kind ehrlich zu sagen: „Ich bin gerade wirklich wütend, weil du nicht auf mich hörst. Aber das bedeutet nicht, dass ich dich weniger liebe. Es ist okay, wütend zu sein, und ich bin hier, um dir zu helfen, es besser zu machen.“
Hier wird die bedingungslose Liebe betont, während gleichzeitig klar gemacht wird, dass bestimmte Verhaltensweisen Konsequenzen haben.
Auch Erwachsene nerven einander – und lieben sich trotzdem
Dasselbe Prinzip gilt natürlich auch in der Beziehung zwischen Erwachsenen. Auch in Partnerschaften oder zwischen Geschwistern gibt es Momente, in denen man genervt ist, und auch hier gilt: Liebe und Ärger können koexistieren. Eine stabile Beziehung lebt davon, dass Konflikte ausgetragen werden dürfen, ohne dass die Beziehung selbst infrage gestellt wird.
Zum Beispiel in einer Partnerschaft: „Wenn du deine Sachen überall liegen lässt, nervt mich das wirklich. Aber das ändert nichts daran, dass ich dich liebe.“ Solche klaren und direkten Aussagen vermitteln dem Partner, dass seine Eigenheiten nerven, die Liebe jedoch stabil bleibt.
Fazit: Gefühle integrieren und Kinder stärken
Familienkonstellationen sind komplex, und es ist vollkommen normal, sich in diesen engen Beziehungen manchmal gegenseitig zu nerven. Was jedoch von entscheidender Bedeutung ist, ist die klare Kommunikation dieser Gefühle und die gleichzeitige Betonung der bedingungslosen Liebe.
Wenn Kinder lernen, dass es in Ordnung ist, Fehler zu machen, und dass sie dennoch geliebt werden, wachsen sie zu selbstsicheren Menschen heran. Sie entwickeln die Fähigkeit, Konflikte zu bewältigen, ohne an ihrem Selbstwert zu zweifeln. Und genau das ist es, was wir als Eltern erreichen wollen: Kinder, die sich nicht von äußeren Bewertungen abhängig machen, sondern wissen, dass sie, egal was passiert, bedingungslos geliebt werden.
In der Familie geht es nicht darum, perfekte Harmonie zu bewahren, sondern darum, die Gleichzeitigkeit von Liebe und Konflikt zu akzeptieren und anzunehmen. Und dies kann eine Familie – und die in ihr heranwachsenden Menschen – nur stärker machen.
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